Perspektivwechsel und Weitblick
Pressemeldung der Stadt Weissenfels, 21. August 2024
Im Rahmen des „T!Raum-Projektes“ arbeitet die Stadt Weißenfels mit Forschenden und Studierenden der Universität Leipzig zusammen. Thema sind Stadtentwicklung und Strukturwandel sowie Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung bei diesen anstehenden Veränderungsprozessen in Weißenfels. In den vergangenen Monaten waren die Studierenden oft in der Saalestadt unterwegs und haben interessante Gespräche geführt. Die Zwischenergebnisse haben sie am 10. Juli 2024 bei einem Erfahrungsaustausch auf dem Areal der alten Brückenmühle vorgestellt. Vor Ort kamen die Projektkoordinatorinnen Theresa Grimm und Katrin Schade mit Oberbürgermeister Martin Papke und weiteren Verantwortlichen der Stadtverwaltung ins Gespräch.
Text und Fotos Katharina Vokoun, Stadt Weißenfels
Kontakt hatten die Forschenden entsprechend der zuvor von ihnen festgelegten Schwerpunkte zu älteren Menschen, Personen aus der Migrationsarbeit und Engagierten verschiedener Sport- und Kulturvereine. Trotz zahlreicher Gespräche handelt es sich bei der Feldstudie keinesfalls um eine repräsentative Erhebung. Vielmehr ist es den Studierenden und Forschenden gelungen, sich einen ersten Eindruck von den Menschen in Weißenfels und ihrem Leben zu machen und somit eine Vorstellung von der Saalestadt zu gewinnen.
Als besonders beeindruckend schilderten Theresa Grimm und Katrin Schade die enorme Vereinsvielfalt in Weißenfels. Mehr als 500 dieser Zusammenschlüsse gibt es in der Saalestadt. Damit eng verbunden ist das gesellschaftliche Engagement, das den beiden Wissenschaftlerinnen zufolge tief in den Menschen verwurzelt ist. Die grundsätzliche Bereitschaft, sich für die Mitmenschen einzusetzen, gehöre bei Weißenfelserinnen und Weißenfelsern eigentlich zur Identität. In der Praxis seien die zeitintensiven und langfristigen Ehrenämter aber auf wenige Schultern verteilt. Katrin Schade sprach vom „Engagement als Halbtagsjob“. Eine Aufgabe, welche die Personen zum Teil an ihre körperlichen und geistigen Grenzen bringe. Ähnlich paradox sei die wahrgenommene Konkurrenz zwischen den Vereinen einerseits und der wiederholt geäußerte Wunsch nach mehr Vernetzung und einem stärkeren Miteinander andererseits.
Als große Chance aber auch Herausforderung der Stadt Weißenfels stellten die Studierenden zudem die kontinuierlichen Beziehungen der Menschen heraus. So kennen sich Bürgerinnen und Bürger seit Ewigkeiten, bleiben über Generationen hinweg in Kontakt. Besonders erstaunlich für Theresa Grimm und Katrin Schade: Unterschiedliche Ansichten werden überwunden und die Beziehungen trotzdem aufrechterhalten. „In Differenz zusammenzuleben, nicht ins Negative zu gehen, Wege nicht zu trennen, sondern stattdessen Brücken zu bauen – diese Grundhaltung der Menschen kann von hohem Wert für die anstehenden Veränderungsprozesse in Weißenfels sein“, sagte Katrin Schade.
Neben den Potenzialen sprachen die Forschenden und die Studierenden bei dem Erfahrungsaustausch mit den städtischen Vertretern auch über Herausforderungen der Saalestadt. Thema war beispielsweise die Unzufriedenheit bei einem großen Teil der Menschen. Oberbürgermeister Martin Papke erklärte, dass die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbrüche in der Vergangenheit für viele Personen traumatische Erlebnisse gewesen waren. Heute herrsche das Gefühl, dass sich Probleme wiederholen. Kritische Äußerungen an vergangenen und gegenwärtigen Veränderungsprozessen gingen hierbei Hand in Hand und führten zu einer Unzufriedenheit über Generationen hinweg. Das Stadtoberhaupt bezeichnete dieses Phänomen drastisch als „Hang zur Selbstkasteiung“. „Das kollektive Gedächtnis in Weißenfels ist stark. Die Leute sprechen tendenziell eher schlecht über ihre Heimatstadt. Tatsächlich ziehen sich diese negativen Geschichten und pessimistischen Überzeugungen durch die ganze Geschichte von Weißenfels“, sagte Martin Papke. Er wolle es sich zur Aufgabe machen, einerseits die Frustration zu ertragen aber andererseits auch positive Narrative über Weißenfels zu fördern. Bei dieser Herausforderung wollen die Studierenden die Kommune unterstützen. So sind laut Katrin Schade bereits im kommenden Semester mehrere Projekte geplant, die den Bürgerinnen und Bürgern einen neuen Blick auf „ihr Weißenfels“ ermöglichen sollen. Den „Zauber des Unbekannten“ nennt es die Leipzigerin. Auf diese Weise sollen Potenziale erkannt und ein positives Stadtbild greifbar werden.
Wie überraschend solch eine Kombination aus Perspektivwechsel und Weitblick sein kann, zeigte sich bei den Einschätzungen der Studierenden zur Neustadt. Das Quartier werde als abgesondert wahrgenommen. Katrin Schade betonte, dass derartige Viertel für ostdeutsche, mittelgroße Städte wie Weißenfels, die zudem landkreisabhängig sind, äußerst untypisch sind. Bezüglich der Perspektiven der Neustadt müsse sich die Kommune deshalb an Großstädten orientieren, wo sich gerade in diesen Stadtteilen langfristig oft Räume für eine positive Entwicklung ergeben. Das Potenzial dafür sieht Katrin Schade auch in der Neustadt. „Nahverkehrsanbindung, Grünflächen, Bildungseinrichtungen, kurze Wege zu Einkaufsmöglichkeiten und medizinischer Versorgung, gründerzeitliche Bauten sowie interessante Orte der Begegnung – diese attraktiven Ressourcen liegen jetzt schon vor“, fasst die Wissenschaftlerin zusammen. Auch für Oberbürgermeister Martin Papke stellt sich nicht die Frage, ob sich die Neustadt positiv entwickelt, sondern welche Ankerpunkte gesetzt werden müssen, um eine Bewegung in Gang zu bringen. „Die Neustadt wird oft als verlorener Stadtteil bezeichnet. Das ist verrückt. Impliziert es doch das Ende des Quartiers. Faktisch gibt es aber kein Finale für ein Stadtviertel. All das, was wir aktuell in der Neustadt vorfinden, ist nur eine Zwischenaufnahme. Wir sollten bei diesen Prozessen eine gewisse Gelassenheit entwickeln, den zeitlichen Druck rausnehmen. Ein klar strukturiertes Vorgehen ist nicht immer die Lösung. Manchmal braucht es Erprobungsräume. Rantasten, Möglichkeiten zulassen – damit Unvorhersehbares geschehen kann“, sagte Martin Papke.
Für den ersten frischen Wind werden schon ab dem kommenden Semester die Studierenden selbst sorgen. So wird für das T!Raum-Projekt ein Raum in der Neustadt angemietet. Entsprechend der Vorstellungen von Theresa Grimm und Katrin Schade sollen sich dank dieser neutralen Plattform eine „kreative Keimzelle“ und eine „Dynamik des Hingehens“ entwickeln. Mit offensiven Angeboten möchten die Studierenden die Menschen der Stadt Weißenfels erreichen und somit auch die Bürgerbeteiligung fördern.